Ziel des an der BBAW (Berlin) und an der SAW (Leipzig) umgesetzten Vorhabens ist es, ein elektronisches Lexikon mit einem zugrundeliegenden Textcorpus zu schaffen, in dem sprach- und schriftformübergreifend Lexeme und Texte der gesamten, über 4000-jährigen ägyptisch-koptischen Sprachgeschichte integriert dargestellt werden. Das Lexikon und das Corpus werden lexikalisch und grammatisch annotiert und für Recherchen frei im Internet zur Verfügung gestellt. Damit wird der Ägyptologie und den angrenzenden Wissenschaften ein modernes Forschungsinstrument zur Verfügung gestellt, mit dem durch die Bereitstellung geeigneter Werkzeuge auf linguistisch annotierte ägyptische Sprachdaten selektiv, komparatistisch und kontrastiv zurückgegriffen werden kann.
Die ägyptische Sprache lässt sich als produktive Sprache über einen Zeitraum von mehr als 4000 Jahren nachweisen. In Schriftzeugnissen ist sie von den Anfängen der frühen Schriftentwicklung um 3000 v. Ch. bis zu den letzten koptischen Texten des 14. Jh. n. Ch. zugänglich. Damit ist das Ägyptische die am längsten schriftlich bezeugte Sprache der Menschheit. In diesem Zeitraum war sie wie jede natürliche Sprache einem tiefgreifenden Wandel unterworfen, der alle Strukturebenen der Sprache betraf - das Lexikon, die Morphologie und die Sprachstruktur. Das gilt auch für die Textformate der Überlieferung - und sogar für die Schriftformen. Im Verlauf der Jahrtausende wurde das Ägyptische in hieroglyphisch-hieratischer Schrift, später parallel dazu in demotischer und schließlich in koptischer Schrift niedergeschrieben. Das Ägyptisch-Koptische stellt demnach mit seinen phänomenologischen, strukturellen und semantischen Wandlungen ein sprachliches Kontinuum dar.
Sprachwandel vollzieht sich generell in allen natürlichen Sprachen nicht einfach schubweise oder in linearer Abfolge. Auch in Ägypten traten die verschiedenen Sprachstadien in der Textüberlieferung nicht chronologisch nacheinander auf, sondern mit fließenden Übergängen und teils vermischt. Das ist gerade am Beispiel der ägyptischen Sprache über einen einzigartig langen Zeitraum nachvollziehbar.
In Ägypten kamen durch einen starken Traditionalismus die alten Sprach-, Schrift- und Textformen nicht irgendwann einfach außer Gebrauch. Durch eine Orientierung an althergebrachten kulturellen und religiösen Wertesystemen wurden Traditionslinien sprachlicher Kommunikation teils über mehrere Jahrtausende präsent gehalten, gepflegt und für die aktuellen Textproduktionen adaptiert. Die Sprache der uns überlieferten Texte lässt sich demnach nicht klar in synchrone Horizonte trennen. Die Vermischungen der sprachlichen Formen aus verschiedenen Sprachstadien zeigen sich in den Texten in vielen Bereichen, so innerhalb der Morphologie und Orthographie sowie in der Syntax und der Semantik. Dabei ist eine Verteilung von sprachlichen Formen entsprechend der jeweiligen Textsorten auffällig. Außerdem gibt es sprachliche und thematische Rückbezüge auf ältere Sprachstufen (Archaismen), die vor allem in vielen Texten aus dem 1. Jahrtausend v. Chr zu beobachten sind. Dabei sind die Vermischungsphänomene oft nicht einfach zu erkennen und werden durch die fragmentarische Textüberlieferungen noch erschwert.
Die Erforschung der ägyptischen Sprache
Die ägyptologische Forschung hat in den vergangenen 120 Jahren erfolgreich versucht, den sichtbaren sprachlichen Veränderungen des Ägyptischen Rechnung zu tragen und die ägyptische Sprachentwicklung als eine diachrone Abfolge synchroner Sprachstadien des Altägyptischen (28.-23. Jh. v. Chr.) und des Mittelägyptischen (21.-18. Jh. v. Chr.) sowie des Neuägyptischen (Anfänge seit ca. Mitte des 14. Jh. v. Chr.) des Demotischen (seit dem 7. Jh. v. Chr.) und des Koptischen (seit 300 n. Chr.) darzustellen. Diese wissenschaftliche Einteilung nach synchronen Sprachstufen war und ist völlig legitim und für die Forschung bis heute fruchtbar. Sie erbrachte wertvolle Erkenntnisse zu den Strukturen des Ägyptischen und führte zu einer differenzierten Detailforschung in Gebieten der Grammatik und Lexik. Dieser synchrone Forschungsansatz prägt die Ägyptologie bis heute und wird auf vielen Ebenen wie z. B. der Textanalyse, der Grammatikforschung und der Lexikographie fortgeschrieben.
Betrachtet man den Wechsel von einem Sprachstadium in ein anderes aus einem diachronen Blickwinkel, so gibt es immer wieder Komplikationen. Dem klar nachweisbaren Sprachwandel - wie etwa der Entwicklung des Ägyptischen von einer synthetischen zu einer analytisch strukturierten Sprache - wirken andererseits die kulturellen Traditionslinien mit ihrer Bewahrung älterer Formen entgegen. In der Textproduktion nutzten die Schreiber der jeweils jüngeren Epochen zunehmend die ehrwürdigen Sprachnormen älterer Texte für ihre aktuelle Arbeit. Die traditionellen Texte dienten also nicht nur als Archivalien kulturellen Wissens, sondern wurden durch Kopie, Zitat oder Umgestaltung aktiv in neue Textschöpfungen integriert. Diese Parallelität von Transformation und Tradition wurde umso komplexer, je mehr sprach- und kulturgeschichtliche Vergangenheit das Ägyptische aufwies. Texte, die von der modernen Forschung heute als nachklassisches Mittelägyptisch ("Égyptien de tradition") eingestuft werden, finden sich bereits in Texten des Neuen Reiches; verstärkt sind sie dann aber in Texten des 1. Jahrtausend v. Chr. überliefert. Gerade die Texte dieser Epoche zeigen die Tiefe und Komplexität der ägyptischen Sprache und ihrer Wandlungen. Die pharaonische (Text-)Kultur stand zu diesem Zeitpunkt nicht nur vor dem Hintergrund einer mehr als zwei Jahrtausende umfassenden Geschichte. Das erste vorchristliche Jahrtausend war für Ägypten auch eine Zeit des intensivierten kulturellen und sprachlichen Kontaktes zum Vorderen Orient, zum Mittelmeerraum und in den afrikanischen Kontinent hinein. Textliche und sprachliche Rückgriffe auf den Anfang der eigenen Schriftkultur verschränken sich noch mit einer Vielfalt neuer Einflüsse aus fremden Kulturen. Schließlich erfolgte mit der Ausbreitung des Christentums eine neue Verschriftlichung des Ägyptischen um 300 n. Chr. mit Hilfe des griechischen Alphabets. Die neue Schriftform und die kulturelle Diskontinuität des nun vorwiegend christlich geprägten Textgutes trennen die jüngste Sprachstufe des Ägyptischen, das Koptische, von den älteren Stadien der Sprache ab. Das hatte und hat Folgen für die "Zuständigkeiten" der heutigen Fachdisziplinen Ägyptologie vs. Koptologie.
Diese disziplinäre Trennung zeigt sich auch innerhalb der ägyptologischen Lexikographie. Am Anfang der lexikographischen Arbeiten stand durchaus ein chronologisch inklusiver Ansatz, nicht zuletzt, weil die historische Entwicklung der ägyptischen Sprache noch nicht in ihrer Bedeutung erkannt war. Letztmals wurde im späten 19. Jahrhundert durch Heinrich Brugschs (1827-1894) großes Hieroglyphisch-demotisches Wörterbuch (publiziert von 1867 bis 1882) ein konsequent diachrones Konzept verwirklicht. Er schloss alle vorkoptischen Sprachstadien des Ägyptischen ein. Einen methodischen Bruch markierte das bis heute grundlegende Referenzwerk der ägyptischen Lexikographie, das zwischen den Jahren 1926 bis 1931 in fünf Hauptbänden als das große "Wörterbuch der ägyptischen Sprache" von Adolf Erman (1854-1937) und Hermann Grapow (1885-1967) veröffentlicht wurde.
Die beiden Herausgeber machten die Schriftform zum Kriterium der Auswahl, nicht das Sprachstadium, indem sie sich auf hieroglyphisch-hieratisch überlieferte Texte beschränkten. Das Demotische und Koptische wurde nicht berücksichtigt, nur bei ausgewählten Lemmata wurde auf deren demotischen und koptischen Nachfolger hingewiesen. Dieser Schnitt war folgenreich - er führte letztlich zur Abtrennung der Lexikographie der demotischen Texte, ja überhaupt der Philologie und Linguistik des Demotischen. Die Lexikographie des Koptischen wiederum ging schon aus disziplingeschichtlichen Gründen eigene Wege, die in der Beschäftigung mit dem frühen Christentum zu suchen sind. Die lexikographischen Werke der Koptologie erfassten aber wiederum nur indigene ägyptische Wörter des koptischen Textgutes. Der umfangreiche griechische Lehnwortschatz - ein bedeutender Teil des tatsächlichen Wortschatzes koptischer Texte - blieb unberücksichtigt.
Obwohl also auch die demotischen und die koptischen Wörterbücher häufig eine Referenz auf die älteren hieroglyphisch überlieferten Vorgänger herstellen, so wie die hieroglyphischen Wörterbücher oft auf demotische und koptische Nachfolger hinwiesen, ist weder eine diachrone noch eine konsequent synchron gegliederte Darstellung des ägyptischen Wortschatzes je erreicht worden.
Das Vorhaben erfasst mit eigenen Arbeitsstellen in Berlin und Leipzig ägyptische Wörter und Texte aller Sprachstadien des Ägyptischen in elektronischer Form. In einem Wörterbuch, das mit einem Textcorpus hinterlegt ist, in dem sprach- und schriftformübergreifend Texte und Lexeme der gesamten, über 4000-jährigen ägyptisch-koptischen Sprachgeschichte aufgenommen werden, soll die ägyptische Sprache sowohl in ihrem Wandel wie auch in ihren historischen Traditionslinien dargestellt werden. Um auch die jüngste Sprachstufe des Ägyptischen, das Koptische, wieder an die Erforschung dieser Sprache anzubinden, werden Texte aus koptisch-christlicher Zeit in das Corpus integriert.
Bei der Corpusarbeit kann auf die Datenbasis des Projektes Altägyptisches Wörterbuch (Laufzeit 1992-2012) zurückgegriffen werden.
Der Erforschung des ägyptischen Wortschatzes soll im Neuprojekt eine Schlüsselrolle zukommen, denn der Wortschatz steht in direkter Relation und Interaktion mit dem Weltverständnis der Sprachgemeinschaft. Wandlungen im Wortbestand und in seinen Bedeutungen verweisen auf den Wandel innerhalb der Gesellschaft. Um dies abzubilden, werden hieroglyphische, demotische und koptische Lemmata diachron in einem Wörterbuch erfasst und präsentiert. Mit der Extraktion und Bearbeitung von Fachwortschätzen, die aus einer systematischen elektronischen Aufnahme von sogenannten Wissenstexten (Texte zur Medizin, Mathematik, Astronomie u.ä. Gebieten) gewonnen werden, kann der Entwicklung des Allgemeinwortschatzes auch die Herausbildung eines Fachwortschatzes gegenüber gestellt werden. Die Umsetzung der Aufgaben erfordert eine komplexe Herangehensweise und kann hier in vier Teilbereiche differenziert werden:
(a) Aufbau eines digitalen Wörterbuches
(b) Schaffung eines Textcorpus
(c) Entwicklung eines methodisch-technischen Instrumentariums zur Annotation, Strukturierung und Analyse von Wörterbuch und Textcorpus
(d) Bereitstellung einer digitalen, dynamischen Publikationsplattform und Entwicklung zu einer Arbeits-, Kommunikations- und Kooperationsplattform im Horizont der Web-2.0-Technologie.
(a) Wörterbuch
Das strukturelle Rückgrat des Gesamtsystems ist das integrierte Wörterbuch. Es wird eine digitale und diachrone sowie linguistisch annotierte Wortliste der ägyptisch-koptischen Sprache geschaffen. Dazu werden die bisher verfügbaren Lemmalisten zur ägyptischen Sprache, die im Projekt Altägyptisches Wörterbuch (1992-2012) primär zur lexikalischen Indizierung digitaler Texte benutzt wurden, zu einer Wortliste vereinigt. In ihr werden Lemmata aller Sprachstufen und Schriftformen der ägyptisch-koptischen Sprache erfasst und ihre Ableitungen und Relationen abgebildet. Dadurch wird erstmals die Aufteilung des Wörterbuchs in separate Sprachstadien- bzw. Schriftgruppen-Wörterbücher überwunden, die ja tatsächlich niemals methodisch wirklich konsequent durchgeführt wurde. In der Form, wie sie die Standardliteratur prägt, ist diese Trennung oft eher irreführend als hilfreich für die Sprachanalyse. Zur Einbeziehung des koptischen Wortschatzes, auch unter Berücksichtigung der griechischen Lehnwörter, ist die Kooperation mit dem Leipziger Projekt "The Database and Dictionary of Greek Loanwords in Coptic" (DDGLC), das griechische und arabische Lehnwörter kompiliert, von besonderem Nutzen. Aufgabe des Gesamtwörterbuches ist es - stets im dynamischen Zusammenspiel mit dem hinterlegten Textcorpus - umfassende Sachinformationen zu einzelnen Lexemen zu bieten. Dabei gelangen zunächst linguistische Strukturen wie Etymologie, Ableitung von Wurzeln oder Formenbildung in den Blick. Vor allem aber stehen die semantischen Strukturen des Wortschatzes als Schlüssel zum kulturellen Wissen und seinem Wandel im Vordergrund der Arbeit.
Neben den Übersetzungsäquivalenten wird auch ein semantisches Beschreibungsvokabular für den ägyptischen Wortschatz entwickelt und mit den Lemmata verknüpft. Durch die Kennzeichnung der semantischen Relationen können die Netzwerkstrukturen des ägyptischen Wortschatzes besser erschlossen werden. Als spezielle Domäne des Sprachgebrauchs werden erstmals die fachsprachlichen Merkmale der ägyptischen Wissenstexte, also der Spezialwortschatz, systematisch erfasst, strukturiert und in Relation zum "allgemeinen" Sprachgebrauch hin untersucht. Der Fachwortschatz, der aus dem Allgemeinwortschatz schöpft, reflektiert durch seinen direkten Bezug auf die Veränderungen in Spezialbereichen der materiellen und intellektuellen Kultur ganz andere Phänomene als der Allgemeinwortschatz. Durch diese Fokussierung auf bestimmte Themen sind diachron Wandel und Entwicklung besonders gut darstellbar.
(b) Textcorpusaufbau
Grundlegend für die Sprach- und Textforschung ist der Aufbau eines Corpus, das die Texte standardmäßig mit Transkription, Übersetzung, Lemmatisation, morpho-syntaktischer Annotation, Notation der originalen Schriftform sowie extralinguistischen Metadaten (z.B. Datierung, Provenienz des Textes etc.) enthält. Der Gesamtbestand der ägyptischen Text- und Sprachüberlieferung wird in repräsentativen Teilcorpora dargestellt werden. Konzeptuell und methodisch werden aber sofort Strukturen geschaffen, die die totale Erfassung des ägyptischen Textguts in einer integrierten Form möglich machen. Andere Projekte mit anderem thematischen Fokus werden hier eine Basis für Kooperation finden, so dass die Perspektiven der Vervollständigung des Gesamtcorpus eröffnet werden. In den zwei Arbeitsstellen in Berlin und Leipzig werden jeweils ausgewogene Teilcorpora geschaffen werden: An der Berliner Arbeitsstelle wird ein Corpus von Texten des 1. Jahrtausends v. Chr. erarbeitet. Damit wird eine Phase der ägyptischen Textkultur berücksichtigt, die mit ihrem Widerspiel von Neuschöpfung und Rückgriff auf älteres Textgut sowie ihren vielfältigen Kultur- und Sprachkontakten besonders gut den Sprachwandel in der Textproduktion abbildet. In Leipzig wird ein Corpus der Texte aufgebaut, in denen die pharaonische Kultur Wissen sprachlich expliziert, systematisiert und reflektiert.
Das Corpus des 1. Jahrtausends v. Chr. der Berliner Arbeitsstelle
Die Texterfassung für das Corpus des 1. Jahrtausends v. Chr. konzentriert sich auf historische, königliche und private biographische Texte, auf die religiösen Texte des Totenkultes sowie auf dokumentarische und juristische Texte. Die so genannten historischen und die biographischen Texte gehen auf die im Grabkontext entwickelten Formen der Selbstdarstellung ägyptischer Eliten des 3. Jahrtausends v. Chr. zurück. Diese wurden durch zwei Jahrtausende hindurch in starken Traditionslinien präsent gehalten. Gleichzeitig bildeten die Textgruppen den Raum für kreative Neuschöpfungen, denn im 1. Jahrtausend v. Chr. gaben die Göttertempel mehr als das Grab den typischen Rahmen für königliche und private monumentale Repräsentation. Die diesen Aufzeichnungsorten gemäße Schriftform war das Hieroglyphische und die Sprachform war vorwiegend das sogenannte Traditionelle (Mittel-)Ägyptisch. Dank der generell hohen Variabilität dieser Textquellen und des langen Fortbestands der Textsorte lassen sich Tradition und Innovation in ihnen textuell wie auch sprachlich gut fassen. Die zweite große Gruppe sind die religiösen Textquellen. Sie sind ebenso charakteristisch für die ägyptische Kultur und zeichnen sich in gleicher Weise durch besonders lange Traditionen aus. Im 1. Jahrtausend v. Chr. sind religiöse Texte - vor allem die Totentexte - vornehmlich im monumental-repräsentativen Rahmen der Göttertempel und in Tempelbibliotheken, aber auch in privaten Bibliotheken und in Gräbern überliefert. Als Wanddekorationen sind sie hieroglyphisch niedergeschrieben, als religiös-funeräre Wissenstexte im Besitz von Tempelbibliotheken und Privathäusern und als Grabbeigabe wurden sie auf Papyrusrollen in hieratischer Schrift fixiert. Sprachlich zunächst auch noch ausschließlich im sogenannten Traditionellen (Mittel)-Ägyptisch verfasst, sind diese Texte ein Brennpunkt der Komplexität der spätägyptischen Text- und Überlieferungsgeschichte. Im Laufe des 1. Jahrtausends v. Chr. explodiert die Produktion religiöser Texte offensichtlich. Ihre Bandbreite vergrößert sich und den sprachlich konservativen Texten tritt schließlich ein beträchtliches Corpus von religiösen Texten in neuägyptischer oder demotischer Sprache an die Seite. Ein signifikantes Phänomen und wichtiges Arbeitsgebiet sind religiöse Texte, die in traditionell ägyptischer Sprache verfasst, aber in demotischer Schrift überliefert sind. Auch dokumentarische Texte, namentlich private Rechtsdokumente, sind aus dem ersten vorchristlichen Jahrtausend erhalten. Sie sind als sprachlich und textuell potenziell innovative Kompositionen wichtig. Als schriftliche Kompartimente alltäglicher Praxis wurden sie in schriftsprachlichen Normen des Neuägyptischen (21.-23. Dynastie), Demotischen (ab 25./26. Dynastie) und Griechischen (ab ca. 300 v. Chr. - lange parallel zum Demotischen) verfasst, die mit der gesprochenen Sprache korrelierten. Häufig haben sich glossierte Texte mit Kommentaren in jüngeren Sprachstufen erhalten.
Gelegentlich wurden auch Rechtsdokumente, wie etwa Orakel und Dekrete, für den monumental-repräsentativen Rahmen adaptiert. Sie sind dann in hieroglyphischer Schrift niedergelegt und zeigen sprachlich-textuelle Überarbeitungen.
Die Wissenstexte der Leipziger Arbeitsstelle
Ein Corpus der Wissenstexte der ägyptischen Kultur ist erforderlich, um die Dimension expliziter Diskurse über eigenes kulturelles Wissen und ihre Auswirkung auf den Wortschatz zu erschließen. Ihr reichhaltiges Vokabular zur Benennung von Gegenständen, Handlungen und Handlungsbeteiligten, Prozessen und Konzepten stellt ein wichtiges Segment und Paradigma für die Erforschung der Struktur und Transformation des ägyptischen Wortschatzes dar. Die erhaltenen Manuskripte und monumentalen Zeugen ägyptischer Wissenstexte in hieroglyphischer und hieratischer Schrift datieren in die 12.-13. Dynastie (Mittleres Reich), in die 18.-20. Dynastie (Neues Reich), in die 26. Dynastie und in die römische Zeit. Sie wurden bis weit ins 1. Jahrtausend v. Chr. hinein vor allem in Mittelägyptisch verfasst. In ptolemäisch-römischer Zeit werden Wissenstexte auch im Medium der demotischen und griechischen Sprache überliefert, im späteren 1. Jahrtausend n. Chr. schließlich in Koptisch. Nur ein Teil der Wissenstexte stand schon dem Wörterbuch von Erman und Grapow für die Verzettelung zur Verfügung. Nicht wenige Texte, insbesondere die der 26. Dynastie und der Römerzeit, sind erst in den letzten Jahrzehnten ediert worden oder werden sogar erst in der Laufzeit des gemeinsamen Projektes verfügbar. Die elektronische Erfassung der Wissenstexte ist nicht auf das 1. Jahrtausend v. Chr. fokussiert, sondern setzt im frühen 2. Jahrtausend an. Außerdem ist im Bereich der Wissenstexte auch eine systematische und vollständige Erfassung der nachdemotischen ägyptischsprachigen Überlieferung, d.h. der koptischen Wissensliteratur, eingeplant; sie soll im Rahmen einer Kooperationspartnerschaft dem Projekt zugearbeitet werden.
Weitere Informationen zum Projekt der SAW.
Das demotische und das koptische Corpus
Umfangreiches Textgut insbesondere des 3. und 2. Jahrtausends v. Chr. sowie demotische Texte liegen aus den beiden Projekten Altägyptisches Wörterbuch (1992-2012) und Demotische Textdatenbank (2000-2012) bereits bearbeitet vor und werden in das aktuelle Corpus integriert sowie fallweise ergänzt. Hier sind auch in nicht unerheblichem Umfang bereits ägyptische Texte der Tempelinschriften aus griechischer und römischer Zeit integriert worden. Um die ägyptische Sprach- und Textwelt im Corpus umfassend zu repräsentieren, ist es erforderlich, auch ein Modellcorpus koptischer Texte aufzubauen. Anhand einer Auswahl von Teilcorpora wird ein möglichst repräsentativer Querschnitt durch die Textproduktion der koptischen Textüberlieferung vom 4. bis zum 8. Jahrhundert auf der ganzen Breite der Textsortenvarianz gegeben werden.
Dieser Zeitraum schließt die wichtigsten Erzeugnisse der koptischen Literatur in allen ihren Dialekten ebenso wie auch die Hauptperiode des nichtliterarischen Gebrauchs des Koptischen ein. Ein umfassendes Corpus koptischer Texte liegt angesichts des Umfangs der koptischen Literatur jenseits der Möglichkeiten dieses Projekts. Durch das Modellcorpus werden jedoch kompatible Strukturen und Hilfsmittel erarbeitet, die ggf. in anderen Projekten zum Aufbau umfangreicherer koptischer Textcorpora genutzt werden können.
Die Darstellung der Schriftformen
Auf der Ebene der qualitativen Corpusentwicklung ist auch die Repräsentation der originalen Schriftform der Texte notwendig, die seit langem von der wissenschaftlichen Community gefordert worden ist. Dazu werden im Rahmen einer Bilddatenbank und unter Wahrung aller Copyrights Fotos und Faksimilia, die die archäologisch-paläographische Kontrolle ermöglichen, eingebunden. Es ist aber sehr wichtig, die hieroglyphischen und demotischen Schriftbilder darüber hinaus auch mittels elektronischer Zeichencodierungen zu erfassen. Nur auf der Grundlage elektronisch codierter Hieroglyphen und Zeichenformen können auch maschinelle Analysen zur Zeichenverwendung und Zeichenfrequenz durchgeführt werden. Dazu werden vorliegende Grundlagen einer eher pragmatisch ausgerichteten, hieroglyphischen Zeichenliste vervollständigt und zu einer systematischen Zeichenliste entwickelt. Für das Demotische ist die Entwicklung einer Zeichenliste Neuland.
(c) Methoden und Konzepte
Im Bereich der Methoden werden neue Codierungsformate entwickelt bzw. bereits vorliegende angepasst. Sie gestatten es, ein so komplexes Textgut auch durch Metadaten zu beschreiben. Dadurch wird es möglich, den sprachlichen Charakter von Texten sowie die Merkmale von Wörtern frei von den meist üblichen sprachgeschichtlichen Klassifikationen zu beschreiben. Ein umfassendes Codierungssystem zur Annotation grammatischer und semantischer Funktionen wird in Anlehnung an das bestehende Annotationsschema des Vorhabens Altägyptisches Wörterbuch sowie in Abstimmung mit den Standards der Leipzig Glossing Rules (LGR) und von ISOcat entwickelt und adaptiert. Zur Analyse des Textcorpus wird der Methodenschatz der Corpuslinguistik für das Ägyptische fruchtbar gemacht. Quantitative Befunde zur Verteilung und Kombination grammatischer und lexikalischer Merkmale bieten die Möglichkeit, sowohl historische Sprachstadien als auch die Sprachnormen unterschiedlicher Textregister anhand innerlinguistischer Verteilungs- und Kombinationsbefunde objektiv zu charakterisieren und zu kontrastieren. Auch die Verknüpfung linguistischer Befunde mit metalinguistischen Textmerkmalen (Datierung, Provenienz, Textsorte) kann Zusammenhänge deutlicher darstellen.
Eine eigene und fachintern oft nachgefragte Aufgabe ist die Präsentation von hieroglyphischen Schriftformen im Textcorpus. Schließlich ist für die Analyse des ägyptischen Wortschatzes, seiner Morphologie und seiner Transformationen der Bezug auf die graphische Realität der originalen überlieferten Wortformen unerlässlich. Hier wird nicht vorrangig die listenartige Sammlung von Zeichenformen angestrebt, denn solche Listen liegen vor und wurden bereits digitalisiert, in Datenbanken erfasst und in einer Hieroglyphen-Schreibmaschine handhabbar gemacht. Die entscheidende Aufgabe ist es im laufenen Projekt, die vorhandenen Listen von Zeichenformen zum einen nach ikonographischen Identitäten und Funktionen und zum anderen nach Grundformen und Varianten durchzustrukturieren. Auf dieser Basis ist nicht nur die Reproduktion der Zeichenformen in lesbarer Form, sondern eine gezielte Suche und Analyse auf der Basis codierter Schriftformen möglich. Ganz neu soll diese Aufgabe auch für das Demotische mit dem Aufbau einer Zeichenliste und einer Schreibungscodierung begonnen werden.
(d) Technische Umsetzung
Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über langfristige Erhaltung und Nutzbarkeit digitaler Daten ist es entscheidend, die gewählten technischen Formate systematisch an internationalen Standards (z.B. UNICODE, TEI, XML) auszurichten. Durch die in diesem Projekt entwickelte Plattform des Thesaurus Linguae Aegyptiae werden die neu erarbeiteten Datenbestände und Analysewerkzeuge zeitnah der internationalen Forschung zur Verfügung gestellt. Auch ein neues Publikations- und Nutzungsformat ist avisiert. Die Präsentation einer Plattform zur dynamischen Recherche, Navigation und analytischen Konsultation ist das Rückgrat der Publikation, aber der Leser soll nicht mehr in einer rein rezeptiven Rolle bleiben. Einerseits wird den Nutzern die Möglichkeit gegeben, sowohl Materialien, Abfrageresultate u. dgl. in einem persönlichen Arbeitsplatz abzulegen und weiter zu bearbeiten. Andererseits soll er auch aktiv eigene Anmerkungen und Beiträge beisteuern. Damit wird der Schritt von einer reinen Publikationsplattform zu einer interaktiven Kommunikations- und Kooperationsplattform im Rahmen der Web-2.0-Technologie vollzogen. Durch diese Innovationen wird die Tätigkeit des Vorhabens kontinuierlich mit der aktuellen Forschungspraxis der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft verzahnt.
Um diese vier Arbeitsfelder Lexikographie, Textcorpus, Methoden sowie technische Umsetzung realistisch abzuarbeiten und wechselseitig miteinander zu verzahnen, ist die Projektarbeit in sinnvolle Arbeitsetappen aufgeteilt. Das Gesamtziel des Projekts lässt sich daher nur sukzessive und in mehreren Schritten erreichen, die jeweils im Internet abgebildet und in Form von Teilergebnissen zur Nutzung bereit gestellt werden.
Innerhalb der Laufzeit des Vorhabens Altägyptisches Wörterbuch (1992 bis 2012) wurde bereits die internetfähige Version einer Textdatenbank entwickelt. Auf dieser Publikationsplattform - dem Thesaurus Linguae Aegyptiae (TLA) - wurden seit 2004 jährlich neue Versionen eines Corpus ägyptischer Texte im Internet veröffentlicht, so dass zu Projektende im Dezember 2012 ein Gesamtcorpus mit 1.120.000 Textwörtern im Netz zur Recherche zur Verfügung stand. Mit dieser Publikationsplattform wurden neue Forschungsansätze und Aufgabenstellungen in den Blick gerückt. Das Projekt "Strukturen und Transformationen des Wortschatzes der ägyptischen Sprache" entwickelt, aufbauend auf dieser materiellen und technischen Basis, die Strukturen und Funktionalitäten des modernen Forschungswerkzeuges weiter, passt es an die neuen technologischen Erfordernisse an und sichert die Datenbestände zur langfristigen Nutzung. Die primäre Aufgabe ist es, der Ägyptologie und den benachbarten Wissenschaften ein Instrument zur Verfügung zu stellen, mit dem auf linguistisch annotierte ägyptische Sprachdaten selektiv, komparatistisch und kontrastiv zurückgegriffen werden kann. Durch die Bereitstellung einer Texterfassungssoftware für Kooperationspartner und durch neue Webtechnologien wird ein Raum für die Mitarbeit externer Forscher und für den Austausch mit anderen Projekten eröffnet.